Am Bahnhof

von M. Fischer

„Achtung, aus Sicherheitsgründen bitten wir Sie, Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt zu lassen. Informieren Sie bitte unverzüglich die Polizei oder das Bahnhofspersonal, wenn Ihnen alleinstehendes Gepäck auffällt.“ dröhnte es aus der vorkriegszeitlichen Sprechanlage. Tom, der an einer Wand lehnte, ließ unter größtmöglicher Vorsicht sein Blick im Gebäude umherwandern.

„Terroranschlag!“ hauchte er schließlich verächtlich zu sich selbst. Die Einzigen anderen Personen, die sich außer ihm in der kleinen Bahnhofshalle aufhielten, waren ein dicker Kerl im Orangendress, der gerade dabei war einen Müllsack zu tauschen und die alte Frau Schreiner, die in ihrer Handtasche kramte.

Magda Schreiner fuhr drei Mal die Woche mit dem Zug. Am Dienstag hatte sie Arzttermine von früh bis spät in der nahegelegenen Stadt, donnerstags erledigte sie dort ihre Einkäufe und am Samstag besuchte sie für gewöhnlich ihre Verwandtschaft in Kassel. Heute war Donnerstag. Seit Tom ein kleiner Junge gewesen war, mochte er Zugreisen. Er genoss es, durch die malerischen Landschaften zu fahren, die es in dieser Gegend noch gab und dabei seinen Blick aus dem Fenster schweifen zu lassen. Es gab immer wieder Neues zu entdecken wie alte Burgen, strahlend gelbe Rapsfelder oder ehrfürchtig anmutende Wälder.

Auf die heutige Zugfahrt freute sich Tom ganz besonders. Der Grund dafür war, dass er endlich wieder Zeit zum Lesen hatte. Viel zu lange lag sein letztes Buch zurück und darum hatte er sich extra für heute ein Neues gekauft. Dank des schnellen Internetversandhändlers kam es noch rechtzeitig bei ihm zu Hause an. Einen Krimi, er liebte das Genre und konnte gar nicht genug Bücher davon in die Finger bekommen. Inzwischen hatte er schon seine eigene kleine Privatbibliothek, in welcher er historische sowie moderne Kriminalgeschichten sammelte. Doch noch musste er sich gedulden und die restlichen Minuten warten, bis der Zug ankommen würde. Seine Hände hatte er inzwischen in den Jackentaschen vergraben, um sie vor der winterlichen Kälte zu schützen, die von draußen durch die zahlreichen Luftschlitze hereinzog. Auf der gelbbraunen Ziegelwand zu Toms Rechten entdeckte er ein kleines Messingschild. Darauf geschrieben standen die Worte: „Wartehalle, erbaut 1863.“ Tom wusste, dass der Bahnhof früher eines der prächtigsten Gebäude in der ganzen Region war und sich zahlreiche Menschen von hier aus auf den Weg in alle Himmelsrichtungen gemacht hatten. Doch im Laufe der Jahrzehnte hatte die Industrie in der Region immer mehr an Bedeutung verloren und mit ihr der Bahnhof. Einige Gebäudeteile mussten in den letzten Jahren abgerissen werden, weil sie verkommen waren, und drohten einzustürzen oder durch herabfallende Teile Menschen zu verletzen. Fast konnte Tom noch ein bisschen des Flairs von damals in diesen zu einst ehrwürdigen Hallen spüren.

Ein gar köstlicher Duft zog plötzlich auf und überlagerte den muffigen Geruch des Gebäudes. Da fiel Tom auf, dass er bei seiner kleinen Volkszählung jemanden vergessen hatte. Siggi, der einen kleinen Kiosk direkt am Vordereingang des Gebäudes unterhielt, hatte gerade den Grill angefeuert. Er machte die leckersten Bratwürste weit und breit.Zumindest hatte Tom noch nirgendswo eine bessere gegessen. Den kleinen Kiosk gab es schon als Tom noch ein kleiner Junge war und wenn er eines Tages geschlossen werden würde, dann sicherlich auch gleich der Bahnhof mit ihm, so wie in den anderen kleinen Gemeinden auch. Während Tom über Bratwürste nachdachte, um sich die Zeit zu vertreiben, fiel ihm auf, dass er eigentlich immer nur bei Siggi Würste aß. Deshalb konnte er gar keinen realistischen Geschmacksvergleich anstellen. In diesem Moment beschloss Tom, Bratwürste aus anderen Städten zu probieren und anschließend Siggis Qualität neu zu bewerten.

Frau Schreiner schien nun gefunden zu haben, wonach sie gesucht hatte. Es war nicht der Zünder wie Tom erst vermutete, sondern eine weiße Plastikkarte mit rotem Streifen. Er wusste genau, was als Nächstes geschehen würde. Die gebrechliche alte Dame würde ihm ausführlich von ihrer neuen Bahncard erzählen, wie viel günstiger sie doch jetzt fährt und wie nett man sie beraten hatte. Das erzählte sie jedem im Dorf, egal ob es einen interessiert oder man es bereits schon einmal von ihr gehört hatte. Frau Schreiner kennt da keine Gnade, wenn sie etwas Weltbewegendes zu berichten vermag. Zum Leid von Tom vermeldete nun auch noch die Anzeigetafel in verblassten gelben Lettern seinen Zug um „ca. 15 Minuten“ verspätet. Doch er hatte sich heute vorgenommen sich nicht zu ärgern, egal was auch geschehen würde.

Während die Fachkraft für Kreislauf- und Abfallwirtschaft zur nächsten Mülltonne eilte, stand Frau Schreiner mühevoll auf und machte sich samt Gehilfe auf in Richtung Tom, der für ein Wunder betete. Plötzlich ein Lautes krachen! Die massive Holztür, die von der Straße aus in das Innere der Halle führte, wurde geöffnet und lies alle Anwesenden kurz aufschrecken. Von draußen wehte eine Wand aus Schnee begleitet von dem sanften Lichtschein einer Laterne herein. Die Schneeflocken reflektierten das Licht und verwandelten sich in eine Wolke aus farbenfroh funkelnden Sternen. Ein wunderschöner Anblick wie Tom befand.

Erst jetzt durch das wenige zusätzliche Licht offenbarte sich die ganze Hässlichkeit des in die Jahre gekommenen Bahnhofsinterieurs. Die verdreckten Fenster, die zusätzlich noch mit Plakatwerbung von Diavorträgen und Tanzabenden aus einer längst vergessenen Zeit beklebt waren und kaum Licht hineinließen, verschleierten zuvor das Bild des Elends. Mindestens im gleichen Maße wie die Leuchtstofflampen, von denen mit Glück nur noch jede Dritte funktionierte und die durch grelles blaues Licht vergebens versuchten wenigstens ein Hauch von moderne zu verleihen. Vom Geruch, welcher aus manch einer Ecke emporstieg, mal abgesehen.

Auf High Heels betrat eleganten Schrittes Dalya, die Perle des Dorfes mit ihren haselnussbraunen Augen und dem langen schwarzen Haar das unter einer dicken Wollmütze hervorlugte, die Wartehalle. Alle Blicke waren ihr sofort sicher. Tom erkannte und nutze die sich ihm bietende Gelegenheit um Frau Schreiner, die abgelenkt war, mit einer schnellen Körpertäuschung auszuweichen. Er lief zu Siggis Kiosk und kaufte sich eine Tageszeitung, um die Tarnung aufrecht zu erhalten. Das war es ihm Wert. Frau Schreiner nahm unterdessen resigniert wieder Platz auf der Bank.

Tom, der noch ein paar Worte mit Siggi gewechselt hatte, kehrte zurück zur Anzeigetafel und las die Zeitung, bis er durch ein Vibrieren in seiner Hosentasche unterbrochen wurde. Er zog das Mobiltelefon heraus und schaute auf den kleinen beleuchteten Bildschirm. „Neue Kurzmitteilung“ verkündete das Gerät. Sicher betätigte Tom ein paar Tasten, bis er schließlich die Nachricht geöffnet hatte. „Viel Erfolg! Carsten“ stand da geschrieben. Tom freute sich darüber, dass sein Kumpel daran gedacht hatte.

„Können sie mal beiseitetreten! Danke!“ Fauchte der Müllmann Tom an, der noch das Telefon in der Hand hielt und schnell den Platz freigab. Der Mann fegte eine am bodenliegende Kippe dort auf, wo Tom zuvor gestanden hatte. Dabei sah er ihn vernichtend an, als sei Tom es gewesen, der die Zigarette dorthin geworfen hatte. Tom vermutete inzwischen das der Müllmann kein Interesse daran hatte nach draußen zu gehen und deshalb das Gebäude unnatürlich gründlich reinigte. Wer konnte es ihm bei diesem Wetter verübeln. Auch hatte er seinen Blick ständig auf Dalya gerichtet, die ihn aber ignorierte. Tom amüsierte das Abblitzen des Mannes. Er empfand es als gerechte Strafe für seine Unfreundlichkeit.

Ein paar Minuten später war das donnern der sich nähernden Regionalbahn zu vernehmen. Tom war als Erster draußen und bahnte sich einen Weg durch Schnee, Eis und Wind zum Bahngleis. Der rote Zug war kaum zuerkennen so stark schneite es. Von der Unwetterwarnung hatte er kurz zuvor in der Zeitung noch einmal gelesen und scheinbar würde es den ganzen Tag nicht besser werden. Tom mühte sich mit der Zugtür ab, welche sich noch schwerer öffnen ließ als sonst. Durch das ständige Ein- und Aussteigen hatte sich Wasser im Türbereich gesammelt und war gefroren. Es handelte sich dabei um eine dieser alten Türen, die man noch von Hand aufschieben musste. Als er es endlich geschafft hatte und gerade einsteigen wollte tippte ihm jemand auf die Schulter. Es war Frau Schreiner. Sie verlangte von Tom, dass er ihr beim Einsteigen half. Tom kam der Aufforderung nach und wusste, dass er kein Dankeschön dafür bekommen würde. Er hatte auch ein wenig Angst davor, dass die Alte ihm eins mit der Gehhilfe überziehen könne, sollte er sich nicht fügen. Wie man sich im Dorf hinter vorgehaltener Hand erzählt, sei dies schon das eine oder andere Mal vorgekommen. Als Frau Schreiner endlich im Zug war, schob sich gleich Dalya nach und bestieg den Zug. Sie schenkte ihm wenigstens einen entschuldigenden Blick. Tom schloss die Zugtür und ging einen Wagon weiter, um dort einzusteigen.

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