Zugfahrt

von M. Fischer

Tom schüttelte den Schnee von seinen Schultern und schloss die Zugtür mit einem lauten Knall. Sie hätte sich in wenigen Sekunden von selbst geschlossen, doch Tom wollte nicht unnötig die behagliche Wärme entweichen lassen. Er war froh darüber, dass er endlich im Zug war und seine Reise beginnen konnte. Auf der Suche nach einem geeigneten Abteil folgte er dem schmalen Gang im Wagon. Es waren nur eine Handvoll Reisende unterwegs, sodass er unerwartet schnell fündig wurde. Ein ganzes Abteil für ihn allein, ohne nervige Fremde. Tom war überglücklich und trat hinein. Was er sah, gefiel ihm, denn das Abteil hatte seinen ganz eigenen Charme. Für einen kurzen Moment schien es Tom, als befände er sich in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zurückversetzt. Auf beiden Seiten befanden sich je drei ockerfarbene Sitze, die durch den Zahn der Zeit deutliche Abnutzungsspuren aufwiesen. Getrennt waren sie untereinander durch Armlehnen, welche mit demselben Stoff bezogen waren. Unter dem großen Fenster, das sich mit einem dunkelroten Vorhang zuziehen ließe, befand sich der obligatorische Mülleimer. Tom musste schmunzeln, da ihn der Abfalleimer an den unfreundlichen Müllmann vom Bahnhof erinnerte. Er mutmaßte scherzhaft, welche Arbeiten sich dieser Mann wohl noch ausdachte, um nicht vor die Tür zu müssen. An den Fensterplätzen befanden sich jeweils Klapptische, die nur noch notdürftig von den Riegeln an der Wand gehalten wurden. Tom schloss die Tür und entschied sich für die linke Platzreihe. Er gehörte nicht zu den Menschen, die ein Problem damit hatten entgegen der Fahrtrichtung zu sitzen. Tom zog seine wärmende Jacke aus und betrachtete sich kurz im Spiegel, welcher unter der Gepäckablage an der Wand hing. Schließlich verstaute er die Jacke auf dem mittleren Platz und setzte sich selbst daneben an das Fenster. Nur wenige Augenblicke später rollte der Zug los und Tom warf einen letzten Blick auf den verschneiten Bahnhof, der im dichten Schneetreiben bald verschwand. Bevor Tom damit begann das Buch zu lesen, schlug er es in der Mitte auf und roch an den druckfrischen Seiten. Er kannte kaum einen besseren Geruch als diesen und war sich jetzt sicher, dass es ein guter Tag war. Die ersten Zeilen lasen sich vielversprechend und deuteten auf eine spannende Kriminalgeschichte hin. Dabei hatte er sich diesmal nicht die Mühe gemacht, den Klappentext oder die Kurzbeschreibung der Geschichte zu studieren. Stattdessen verließ er sich blindlings auf die Bewertungen der anderen Kunden, welche sehr positiv ausfielen.

Nach einer Weile verkündete eine freundliche Stimme: „Nächster Halt ...“ Den Namen verstand Tom nicht mehr, da sich der Zug bereits im Bremsvorgang befand und das laute Quietschen alles andere übertönte. Allmählich kam der Zug zum Stehen und Tom erkannte durch das Fenster eine leuchtende Bahnhofsuhr. Der sich nie zu bewegen aufhörende Sekundenzeiger quälte sich gerade entgegen der Schwerkraft auf die Zwölf zu. Schwach zeichneten sich die Konturen des Bahnsteiges und der angrenzenden Gebäude ab. Tom fiel ein, dass er schon einmal durch dieses Dorf gekommen war und es hier keinen Bahnhof, sondern nur einen Haltepunkt gab. Tom hatte Mitleid mit den Reisenden, die hier warten mussten, da diese vollkommen ungeschützt dem Wetter ausgeliefert waren. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sich der Zug wieder in Bewegung setzte. Tom lehnte sich in seinem Sitz zurück und las weiter, als plötzlich die Tür aufging. Mürrisch blickte er zu dem Störenfried auf. Er konnte die Person kaum erkennen, da diese bis auf die Augen vollständig verhüllt war. Trotz der hochwertigen Winterbekleidung, wie Tom bemerkte, zitterte die halb erfrorene Gestalt am ganzen Leib. „Ist hier noch frei?“, fragte die Person zähneklappernd und deutete mit dem Arm auf die gegenüberliegende Seite. Tom nickte und widmete sich dann wieder seinem Buch zu. Er war nicht besonders erpicht darauf ein Gespräch zu führen und brachte dies durch Ignoranz zum Ausdruck. Die Frau zog unterdessen ihre Schutzkleidung aus und genoss sichtlich die Wärme des schützenden Zuges. Tom riskierte, während er eine Seite umblätterte, einen kurzen Blick auf sie. Er sah eine schlanke Frau, etwa Ende zwanzig die einen rotgestreiften Pullover und eine dunkle Hose trug. Ihr Gesicht konnte Tom nicht richtig erkennen, da ihr zerzaustes blondes Haar es verdeckte. Sie lächelte ihn an und strich sich die verirrten Strähnen aus dem Gesicht. Nachdem sie sich Tom gegenübergesetzt hatte, fixierte sie ihn mit ihren blass blauen Augen. „Ich bin Nicki“, sagte sie freundlich und reichte ihm die Hand. Tom ließ das Buch wieder auf seinen Schoß sinken und zögerte einen Augenblick. Dann schließlich erwiderte er die Geste „Tom!“, sagte er knapp. „Es freut mich dich kennenzulernen Tom. Wohin soll denn die Reise gehen?“, fragte Nicki. Tom zeigte mit dem Finger auf seine Fahrkarte, welche er schon vorsorglich herausgelegt hatte. „Dann haben wir dasselbe Ziel.“, sagte Nicki und lächelte ihn wieder an. Tom zeigte jedoch keine Reaktion. Er hatte keine Lust auf eine Unterhaltung, sondern wollte einfach nur in Ruhe sein Buch lesen. Währenddessen Nicki ihren Pullover richtete, der unter der Jacke verrutscht war, fragte sie Tom nach dem Grund seiner Reise. Tom atmete schwer und antwortete schließlich: „Ich bin geschäftlich unterwegs!“ Er überlegte kurz wie Nicki wohl reagieren würde, wenn er ihr den tatsächlichen Grund seiner Reise nannte. Dieser Gedanke ließ ihn innerlich erfreuen. Nicki nickte und wartete darauf, dass Tom näher erläuterte, was er mit „geschäftlich“ meinte. Als er sich ihr dann wieder abwenden wollte, ergriff Nicki schnell das Wort. „Verstehe!“, sagte sie, ohne gereizt auf seine unfreundliche Art zu reagieren. Anschließend erklärte sie das Anliegen ihrer Reise und ging dabei an manchen Stellen für Toms Geschmack zu tief ins Detail. Aus diesem Grund hörte er ihr gar nicht zu und nickte nur am Ende ihrer Ausführungen. Nicki riss allmählich der Geduldsfaden. Sie bereute es inzwischen, sich nicht zu dem nett aussehenden Rentnerpärchen gesetzt zu haben. „Sehr gesprächig bist du aber nicht gerade!“, warf Nicki Tom vor und hoffte eine Reaktion von ihm zu bekommen. Tom ahnte, dass sie das damit bezwecken wollte. Er blickte ihr in die Augen und sagte dann ganz ruhig. „Ich möchte einfach nur mein Buch lesen. Darauf hatte ich mich schon die letzten Tage gefreut.“ Nach diesen Worten hatte Nicki ein schlechtes Gewissen, auch wenn sie nicht recht verstand weshalb. Vielleicht war es die Art, wie er es sagte. Erleichtert blickte Tom zu Nicki, die sich eine Wirtschaftszeitschrift aus ihrem Rucksack fischte und darin zu blättern begann. Er bemerkte, dass ihre wohlgeformte kleine Nase aufgrund des Temperaturumschwungs unentwegt zu laufen begonnen hatte. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er aus seiner Jacke ein Papiertaschentuch hervorgeholt und reichte es ihr ohne ein Wort zu verlieren, „Danke Tom, sehr aufmerksam von dir!“

Der Zug fuhr durch die verschneite Landschaft und gelegentlich schaute Tom aus dem Fenster und genoss den Anblick. Er vermied es jedoch dabei Nicki anzusehen, da er sie nicht wieder zu einem Gespräch ermuntern wollte. Er konnte sich nun endlich seinem Buch widmen und verschlang die Seiten.

„Kriminalkommissar Lange bog mit seinem Dienstwagen in die Ruhrstraße ein und wurde direkt von einem Beamten der ihn erkannte durchgewunken. Er fand einen Parkplatz neben dem Krankenwagen und stellte sein Fahrzeug dort ab. Die Kollegen hatten den Tatort bereits abgesperrt und nach Hinweisen abgesucht, was seine Arbeit erleichterte. Dennoch zog Lange es stets vor sich immer selbst ein Bild vom Tatort zu machen, um auch alle unbedeutenden Hinweise aufzuspüren. Er versuchte sich in den Täter, in das Opfer und in die Situation hineinzuversetzen, um alle Fakten zu kennen. Seine Methoden galten bei einigen seiner Kollegen als umstritten, doch allein der Erfolg gab ihm recht. Lange reichte es nicht, den Schuldigen zu fassen. Er wollte auch verstehen, wie es zu einem Verbrechen kam. Sein Partner Schmidt, der hinter einer weiteren Absperrung stand, winkte ihm zu. Lange sah bereits an dessen Gesichtszügen, dass er keine guten Neuigkeiten für ihn hatte. „Das gleiche Tatmuster, wie bei den anderen?“, fragte der Kommissar, ehe Schmidt antworten konnte. Dieser nickte ihm zu und deutete auf den zugedeckten Körper einer Frau. Kommissar Lange ging zu der Toten und grüßte dabei den Gerichtsmediziner, ein älterer Herr britischer Abstammung. Er hob die Decke an und begutachtete das Mordopfer. Die Frau wies die gleichen Verletzungsmerkmale wie all die anderen Opfer zu vor auf und dennoch hoffte er auf einen neuen Hinweis. Plötzlich spürte Lange etwas. Er konnte aber nicht sagen, was es war. Sein Instinkt, auf den er sich immer verlassen konnte, versetzte ihn in Alarmbereitschaft. Er stand auf und drehte sich im Kreis. Dann sah er ihn! Eine Gestalt gehüllt in einen dunklen Kapuzenpullover, die ihn direkt anstarrte. Lange war sich sicher, dass diese Person etwas mit dem Mord zu tun hatte. Vielleicht war es auch der Täter selbst, der endlich einen Fehler begangen hatte. Der Kommissar sah seinem Partner in die Augen und dieser verstand. Im nächsten Augenblick stürmte der Kommissar auf die Gruppe der Schaulustigen zu und ...“

Abrupt wurde die Abteiltür geöffnet und Tom sah einen Mann in blauer Uniform hereintreten, dessen Lächeln aufrichtig und nicht Bestandteil des geforderten Kundendienstes war. Außerdem war es Tom nicht entgangen, dass Nicki kurz zusammenzuckte. Sie war viel zu tief in einen interessanten Artikel zum Thema „Folgen der Kürzung der Solarförderung für die Energiewende“ versunken, als dass sie hätte, etwas anderes wahrnehmen können. Tom hingegen nahm dank seiner geschulten Auffassungsgabe unbedeutende Dinge gleichermaßen wahr wie offensichtliche. Diese Eigenschaft war für jemanden wie ihn unverzichtbar. „Die Fahrausweise bitte!“, forderte er die beiden Passagiere höfflich auf. Tom musste nicht lange suchen, da seine Fahrkarte schon bereitlag. Während der Kontrolleur Toms Ticket einer strengen Prüfung unterzog, nahm Nicki ihre Fahrkarte aus dem Rucksack. Der Schaffner warf nur einen flüchtigen Blick darauf und bedankte sich dann bei den beiden. Er wollte gerade das Abteil verlassen, als er sich nochmal umdrehte und seinen Blick zwischen Nicki und Tom pendeln lies. „Wenn ich ihnen einen Tipp geben darf, dann empfehle ich ihnen die „Kaffeemühle“, sie ist nicht weit vom Bahnhof entfernt und es ist dort um diese Jahreszeit sehr romantisch.“ Als der Kontrolleur statt des erwarteten Dankes nur zwei verwunderte Augenpaare auf sich blicken sah, bemerkte er seine Fehldeutung. „Oh, verzeihen sie ich dachte ... Es ist ja auch nicht so wichtig. Gute Weiterfahrt.“ Der Mann hatte es sichtlich eilige das Abteil zu verlassen. Nachdem die Tür geschlossen wurde, begann Nicki zu lachen und entdeckte auch auf Toms Lippen ein schmales Lächeln. „Er hatte tatsächlich geglaubt, wir wären ein Pärchen“, sagte Nicki und konnte sich kaum noch halten. Tom, der die strahlende Nicki betrachtete, konnte sich nicht weiter zurückhalten und stimmte jetzt vollends mit ein. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal so viel Freude empfand. Nachdem sich beide wieder ihrer Lektüre gewidmet hatten, blieb es für die nächsten siebzehn Minuten und einunddreißig Sekunden still.

„Was ist denn jetzt los, der Zug wird immer langsamer!“, stellte Nicki fest und informierte umgehend Tom, der es längst registriert hatte. Der Zugführer verkündete postwendend über die Sprechanlage die Gründe. „Aufgrund von starker Schneeverwehung und gefrorener Oberleitungen verzögert sich die Weiterfahrt um ... etwa zwei Stunden.“ Nicki stockte der Atem, dann sah sie auf ihr Mobiltelefon, um die Uhrzeit abzulesen. „Das können die doch nicht machen! Ich habe Termine“, fluchte sie. Tom dagegen war die Ruhe in Person und sagte fast schon philosophisch: „Für das Wetter kann niemand etwas.“ Nicki sah ihn an, entschied sich aber den dummen Spruch nicht weiter zu kommentieren. „Was sollen wir denn jetzt die ganze Zeit machen?“ Es war keine ernst gemeinte Frage von Nicki, doch Tom antwortete trotzdem: „Ich kann mein Buch lesen oder schlafen!“ Doch irgendwie glaubte Tom selbst nicht daran. Nicki ließ sich in ihren Sitz zurückfallen und blickte aus dem Fenster. Draußen gab es nichts weiter als Schnee zusehen. Sie waren mitten auf einem Feld stehen geblieben und weit und breit gab es keine Anzeichen für Zivilisation. Nur in der Ferne konnte man ein kleines Wäldchen ausmachen, das vermutlich zwei Felder voneinander trennte. „Sind sie nicht schön?“, fragte Nicki noch immer aus dem Fenster blickend. Tom legte die Stirn in Falten und sah aus dem Fenster. Er wusste nicht, was Nicki meinte. „Da ist nur Schnee!“, brummte er schließlich. „Nein! Sieh genauer hin!“, forderte sie ihn auf. „Ich spreche von den perfekten Schneeflocken auf der Scheibe, sind sie nicht wunderschön?“ Tom betrachtete übertrieben genau die Flocken an der Scheibe und kam zu dem Schluss, dass sie nicht anderes aussahen als sonst. „Ja, das ist wirklich ziemlich beeindruckend. Am besten du zählst sie alle, um dir die Wartezeit zu vertreiben.“

Es verging eine reichliche Stunde, ehe der Zugführer neue Informationen zur Reiseverzögerung bekannt gab. „Wie ich ihn leider mitteilen muss...“, Nicki, die aus einem erholsamen Halbschlaf erwachte verzog bei den ersten Worten das verschlafene Gesicht. „... stecken wir im Augenblick fest und können unsere Fahrt nicht planmäßig fortsetzen. Der Bahnverkehr wurde bis auf Weiteres in beiden Richtungen eingestellt. Wir danken ihnen für ihr Verständnis.“ Nicki wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte. Ihre ganze Planung für den Tag war nun hinfällig. Die anfänglichen zwei Stunden Verspätung hätte sie noch verschmerzen können, indem sie ihre Termine einfach etwas gekürzt und geschoben hätte. „Was ist heute nur los?“, fragte sich Nicki ärgerlich selbst, hätte sie doch nur auf ihre innere Stimme gehört und wäre liegen geblieben. Jetzt saß sie hier für eine unbestimmte Zeit mit diesem undurchschaubaren und auch auf eine gewisse Art geheimnisvoll wirkenden Mann fest.

„Ich werde mich mal umsehen und den Schaffner fragen, wie es weitergeht“, sagte Tom und stand auf. Noch ehe er die Abteiltür öffnete, wurde ihm klar, dass er sich gerade bei Nicki abgemeldet hatte. Normalerweise erklärte er niemanden seine Absichten und Handlungen, doch der Anstand hatte das wohl in dieser Situation von ihm verlangt. Nicki verstand noch immer nicht, wie es Tom gelang ruhig zu bleiben. Sie versuchte sich ein Beispiel an ihm zu nehmen und ordnete ihre Gedanken. „Zuerst muss ich alle Termine absagen!“ sprach sie leise. Sie nahm ihr Smartphone aus dem Rucksack und war erleichtert darüber, dass sie Empfang hatte. Geübt schrieb sie auf der Bildschirmtastatur eine Entschuldigungsnachricht und verschickte diese an all ihre Kontakte des heutigen Tages. Nicki freute sich einen Moment lang, dass ihr die moderne Technik einige Anrufe ersparte. Da Tom noch nicht zurückgekehrt war, vertrieb sie sich die Zeit mit einer Anwendung, die ihr alle Informationen zur Umgebung ihres Standortes anzeigte. „Erstaunlich!“, dachte Nicki, als sie las, dass es eine kleine Ortschaft in der Nähe gab. Nach ein paar Minuten sah Nicki durch die Reflexion des Fensters, das sich die Abteiltür öffnete und Tom hereintrat. Fragend sah sie ihn an und hoffte auf gute Neuigkeiten.

„Sowie es aussieht, sitzen wir hier fest und daran wird sich so schnell auch nichts ändern“, fing Tom an und Nickis Miene verfinsterte sich weiter. „Nach vorn geht gar nichts mehr. Schneeverwehungen, gefrorene Stellanlagen, defekte Bahnübergänge und vieles mehr haben nahezu den gesamten Zugverkehr lahmgelegt. Der Schaffner sagte mir, dass wir frühestens in fünf Stunden mit Hilfe rechnen könnten.“ Tom betrachtete Nickis versteinerten Gesichtsausdruck und fügte dann hinzu: „Der Plan ist es alle Passagiere in die hinteren Wagons zu bringen und dann darauf zuwarten, dass sie von irgendwoher eine Lok schicken, um unseren Zug zum nächstgrößeren Bahnhof zurückzuschleppen.“ Tom musste nicht extra erwähnen, dass er davon überzeugt war, dass sie hier noch weitaus länger festsitzen würden. Doch Nicki bemerkte Toms verschwörerisches Lächeln und wartete misstrauisch auf die Bedeutung. „Ich habe aber nicht die Absicht so lange hier zu warten“, sagte Tom schließlich. Nicki die wieder etwas Hoffnung schöpfte, fragte ihn: „Was hast du vor?“

„Wir stehen hier an einem alten Bahnhof oder was davon übrig ist.“ Tom streckte den Arm aus und zeigte in den vorderen Bereich des Zuges. „Man kann es von unserem Platz aus nicht sehen und es steht auch nur noch ein kleines verfallenes Gebäude. Das wirklich Interessante aber daran ist, dass neben der Ruine eine unbefestigte Straße zu einem Ort führt.“ Nicki erinnerte sich, dass ihr das Programm auf ihrem Telefon eine Ortschaft angezeigte. Sie hielt Tom das Telefon, das eine Karte anzeigte, vor sein Gesicht. Er betrachtete es kurz und sagte freudig: „Das ist wunderbar! Es gibt dort ein kleines Gasthaus mit einer Übernachtungsmöglichkeit.“ Nicki begriff, was er vorhatte: „Du willst wirklich bis dorthin laufen, das sind doch ...“, sie schaute kurz auf ihr Telefon und berührte ein paar Mal den Bildschirm „drei km Luftlinie und das zu Fuß, bei der Kälte.“ Tom sah sie verständnislos an und zuckte nur mit den Schultern. „Bevor ich hier in diesem Zug übernachte, mache ich lieber einen kleinen Spaziergang und schlafe in einem richtigen Bett.“ Nicki war sich nicht sicher, was sie von der Idee halten sollte. „Findest du nicht, dass es besser wäre, hier zu bleiben und bis morgen zu warten? Vielleicht gibt es das Gasthaus gar nicht mehr und das Dorf ist verlassen! Oder es geschieht doch noch ein Wunder und wir können weiterfahren!“ Tom wirkte wenig interessiert an einer Diskussion zu seiner Idee. „Die Gefahr besteht natürlich, aber ich bin bereit das Risiko einzugehen. Wenn du recht haben solltest, kann ich jederzeit wieder umkehren.“ Nicki fragte sich, ob Tom wirklich so draufgängerisch war oder doch nur wahnsinnig. Angestrengt versuchte Nicki die beiden Möglichkeiten, die ihr blieben, abzuwägen und spürte Toms Blick auf ihrem Gesicht. Es schien, als könne er ihre Gedanken lesen und das bereitete ihr ein wenig Angst.

„Ich werde jetzt gehen! Wenn du willst, kannst du mich begleiten“, sagte Tom und machte Anstalten das Abteil zu verlassen. Nicki zögerte und wusste, dass sie sich jetzt entscheiden musste. „Gut, ich komme mit dir!“, sagte sie und war selbst ein wenig überrascht über die Entschlossenheit, die in ihrer Stimme lag. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, packte sie ihren Kram zusammen und hüllte sich wieder in ihre dicke Kleidung. Sie folgte Tom durch den Wagon bis zu einer verschlossenen Tür. „Und nun?“, fragte Nicki, die vergeblich an dem Griff zum Öffnen zerrte. Tom lächelte sie an „Das haben wir gleich.“ Nicki beobachtete wie Tom etwas, das wie ein Taschenmesser aussah, aus seiner Jackentasche holte. Mit ein paar Handgriffen hatte er einen Hebel freigegeben, der durch Ziehen die Verriegelung der Tür aufhob. Tom trat nach draußen und Nicki folgte ihm.

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